Einleitung der gedruckten Ausgabe (2013)

Wohl im Jahre 1905 legte Arthur Schnitzler ein Typoskript an, das alle Autoren und Werke nennt, die er bis zu diesem Zeitpunkt gelesen hatte. Die Lektüreliste führte Schnitzler bis 1928, kurz vor seinem Tode, handschriftlich weiter. Die Liste, die 78 einseitig beschriebene Blätter umfasst, findet sich im Nachlass Arthur Schnitzlers, den die Universität Cambridge verwahrt; eine Kopie besitzt das Arthur-Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg.1 Schnitzlers Lektüreliste wird hier erstmals veröffentlicht: Sie ist wegen der schwer lesbaren Handschrift, der fehlerhaften alphabetischen Ordnung, der ungenauen Autorennamen und vagen, oft falschen Titelangaben bislang kaum konsultiert worden,,2 wird aber in Zukunft der Forschung hoffentlich ein willkommenes und nützliches Hilfsmittel sein. Sämtliche Einträge in der Liste sind transkribiert und – bis auf wenige Unklarheiten – erläutert sowie bibliographisch verifiziert. Sie sind zudem in ein Gesamtregister integriert, das die Lektürenachweise in den Tagebüchern und in den veröffentlichten ausgewählten Briefen sowie in der Autobiographie Jugend in Wien verzeichnet. Dieses Gesamtregister repräsentiert damit die »virtuelle Bibliothek« Arthur Schnitzlers.

Die Leseliste – Anlage und Edition

Die Liste der Lektüren ist nicht datiert,3 dürfte aber im Laufe des Jahres 1905 angelegt worden sein, da keiner der maschinenschriftlich verzeichneten Einträge jünger als 1905 ist und Titel, die – wie Thomas Manns Savonarola-Drama Fiorenza – erst 1905 erschienen, eine seltene Ausnahme bilden. Das Typoskript war von Anfang an auf Fortführung angelegt, wie die meist doppelten Zeilenabstände und großzügigen unteren Seitenränder zeigen. Tatsächlich ergänzte und korrigierte Schnitzler die Titelliste ab 1905 sukzessive handschriftlich. Neu hinzugekommene Autoren trug er in die Leerzeilen ein oder verzeichnete sie auf dem unteren Blattrand, wie etwa die abgebildeten Beispielseiten (Abb. 1–3) zeigen. Die Titelangaben reichen zeitlich bis in die letzten Lebensjahre des Dichters. So finden sich noch Einträge aus den späten Zwanziger Jahren wie Arnold Zweig (Pont und Grischa, 1928), Édmond Fleg (L’enfant prophète, 1926) oder James Joyce (Jugendbildnis, 1926). Allerdings lässt die Intensität der Einträge nach 1911 mehr und mehr nach, was sowohl an dem etwas abnehmenden Lektürepensum als auch an der geringeren Intensität liegen mag, mit der Schnitzler seine Lektüren in der Liste vermerkte.

Schnitzlers Leseliste ist grob nach Ländern, teilweise auch nach literarischen Großregionen gegliedert. Allerdings lässt die Reihenfolge der elf Ländernamen kein Gliederungsprinzip erkennen. »[1] Deutschland«, unter dem 494 Autoren genannt sind, folgen die romanischen Literaturen mit 208 Namenseinträgen, die sich wie folgt verteilen: »[2] Frankreich« (182), »[3] Italien« (16) und »[4] Spanien« (10). Unter »[5] England« sind 51 Schriftsteller aufgeführt. Nicht so sehr ins Gewicht fallen die Literaturen der Länder, die bis zum Ersten Weltkrieg mehr oder weniger zur Donaumonarchie gehörten: »[6] Ungarn .. etc.« (10) sowie »[7] Polen .. Czechen« (9). Die unter der Rubrik »[8] Norden« verzeichneten 57 Schriftstellernamen repräsentieren die Literaturen Dänemarks, Norwegens und Schwedens. »[9] Russland« stellt mit 34 Namen eine beachtliche Autorengruppe. Ihr folgt die antike Literatur, die fast gleichgewichtig »[10] Griechenland« (18) und »[11] Rom« (19) umfasst. Länderintern sind die Autoren weitgehend alphabetisch verzeichnet, doch geriet die Reihenfolge Schnitzler vor allem bei den handschriftlichen Zusätzen mehrfach durcheinander. Nicht zu jedem Autor sind einzelne Werke verzeichnet; teilweise sind die Namen mit Vermerken wie »alles« oder »vieles« versehen.

Die Unterteilung in verschiedene Nationalliteraturen lässt klar erkennen, dass mehr als die Hälfte der von Schnitzler verzeichneten Autorennamen auf die deutschsprachige Literatur entfällt. Schnitzler las somit vorrangig die Literatur seiner Muttersprache. Die französische Literatur stellt das mit weitem Abstand zweitwichtigste Kontingent in der Liste, auch wenn sie weniger als die Hälfte an Autorennamen im Vergleich zur deutschen Literatur umfasst. Den größten Teil der französischen Texte hat Schnitzler, wie die Leseliste ausweist, im Original rezipiert. In allen anderen Fremdsprachen scheint er die Texte in Übersetzungen gelesen zu haben. Wie sicher Schnitzler die französische Sprache beherrschte, zeigt sich etwa daran, dass er D’Annunzio nicht in deutscher, sondern in französischer Version las. Im französischen Original rezipierte er wohl auch einige Erfolgsautoren seiner Zeit (etwa Zola), obgleich deren Werke bereits in deutscher Übersetzung vorlagen. Allerdings war die Sprachenwahl für Schnitzler wohl keine prinzipielle Frage, da er französische Schriftsteller wie etwa Jules Verne auch in deutschen Übersetzungen gelesen hat.

Mit nur noch rund 50 Autoren folgen die skandinavischen Länder (bezeichnet als »Norden«) und England. Fast 5% der Einträge der Leseliste entfallen auf die antike Literatur in griechischer und lateinischer Sprache. Anders als in den anderen Nationalliteraturen gibt Schnitzler allerdings hier fast nie Titel an, sondern beschränkt sich lediglich auf die Nennung der Autorennamen.

Insgesamt überwiegen unter den Einträgen Autoren und Titel des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Erwartungsgemäß sind zudem alle namhaften Klassiker verzeichnet: Neben antiken Vorbildern wie Homer, Sophokles und Ovid sind die deutschen Nationaldichter Lessing, Goethe, Schiller und Kleist ebenso vertreten wie die bedeutendsten Repräsentanten der Weltliteratur, etwa Dante, Cervantes, Shakespeare und Voltaire. Sie hatte Schnitzler wohl schon als »neunjährige[r] Bub« gelesen, da er um 1870 »den größten Teil [s] eines Taschengeldes für die kleinen gelbroten Büchelchen der eben erst neugegründeten Reclam’schen Universalbibliothek« verwandte.4 Zwar relativiert Schnitzler rückblickend seine kindlichen Lektüren und bezweifelt selbst, »ob jene klassischen Meisterwerke [scil. Die Räuber und Fiesko], denen bald die Jungfrau von Orleans, Braut von Messina, Emilia Galotti und viele andere, auch Shakespeare’sche Dramen, sich zugesellten, schon damals wirklich den tiefen Eindruck auf mich ausübten, den zu erleben ich mir einbildete«5 – die frühe literarische Akkulturation beweist andererseits, wie vertraut Schnitzler von Jugend auf mit dem europäischen Literaturkanon war.

Die kanonischen Autoren der Antike und der Neuzeit fuhrt Schnitzler meist ohne Titelangaben an. Solche Pauschalnennungen betreffen auch die Repräsentanten des 19. Jahrhunderts, dessen Kind Schnitzler war. Fast alle bedeutenden deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts sind nur namentlich genannt: unter anderen Joseph von Eichendorff, Dietrich Grabbe, Franz Grillparzer, Gerhart Hauptmann, Friedrich Hebbel, Heinrich Heine, Gottfried Keller, Johann Nepomuk Nestroy, August von Platen, Ferdinand Raimund, Friedrich Rückert, Theodor Storm und Heinrich Daniel Zschokke. Für diese und weitere Autoren, bei denen keine einzelnen Titel angegeben sind, ist als sicher anzunehmen, dass Schnitzler jeweils das Gesamtwerk oder mindestens die Hauptwerke kannte. Undifferenziert bleiben auch die Angaben zu einigen Autoren wie Schiller, Goethe, Shaw oder Bahr, bei denen er ohne nähere Spezifikation »alles« oder »vieles« vermerkt. Rechnet man die Pauschalnennungen hoch, ergibt sich somit eine deutlich höhere Zahl von Einzelwerken, als in der Leseliste angeführt sind. Zudem fehlen prominente Autoren der Klassischen Moderne, die Schnitzler nachweislich bestens kannte. Während er Peter Altenberg, Hermann Bahr, Richard Beer-Hofmann und Felix Dörmann nennt, kommen Leopold von Andrian-Werburg, Karl Kraus, Felix Salten und – die prominenteste Fehlanzeige – Hugo von Hofmannsthal überhaupt nicht vor. Möglicherweise hat Schnitzler diese Autoren auch bewusst ausgelassen, weil er sie persönlich gut kannte und mit der Entstehung mancher Werke so vertraut war, dass er sie nicht in einer neutralen Leseliste registrieren wollte.

Der Lückenhaftigkeit seiner Leseliste war sich Schnitzler selbst durchaus bewusst. So bemerkte er zu Weihnachten 1911 in einer handschriftlichen Notiz auf dem Vorsatzblatt der Liste: »Auf Vollständigkeit kein Anspruch, nur zum Gedächtnisbehelf aufnotiert... Was im M[anu]script gelesen fehlt bis heute (25.12.1911) fast durchaus.«6 Bedenkt man die regelmäßigen und häufigen Theater-, Oper- und Kinobesuche, die Schnitzler in seinem Tagebuch verzeichnet, und ordnet man diese Form akustisch-visueller Rezeption dem individuellen stummen Lesen oder den kollektiven Rezitationen im Freundeskreis der Jung-Wiener gleich,,7 dann wird klar, wie selektiv die Liste schon von ihrer Anlage her ist. Wohl um solche Lücken zu kompensieren, ließ Schnitzler im Jahre 1927 die Lektürenotate in seinen Tagebüchern exzerpieren. Diese von 1879 bis 1927 chronologisch geordnete, maschinenschriftliche Aufzeichnung »Lektüre und Bemerkungen dazu« ergänzt die Lektüreliste, ist freilich durch die vollständige Edition der Tagebücher mittlerweile überholt.8 Umgekehrt ist die hier erstmals veröffentlichte Leseliste eine quantitativ wie qualitativ wichtige Ergänzung der Lektürenachweise in den Tagebüchern.

In ihrer überlieferten Form eignet sich die Leseliste jedoch kaum zu Forschungszwecken: Schon wegen ihrer unzuverlässigen Ordnung und der schwer zu entziffernden Handschrift Schnitzlers sind die in ihr enthaltenen Informationen nicht leicht zu erschließen. Erschwerend hinzu kommt, dass Titel und Namen nur sehr knapp, zum Teil sogar mit Abkürzungen und gelegentlich falsch verzeichnet sind. Dadurch ist ihre bibliographische Auflösung mitunter recht aufwendig. Dass die Liste teilweise aus der Erinnerung rekonstruiert ist, zeigen etliche falsche, ungenaue oder inhaltsbezogene Titel. Die ursprüngliche alphabetische Anordnung geriet durch zahlreiche handschriftliche Ergänzungen sowie einige Inkonsequenzen durcheinander, und auch das zweite Ordnungsprinzip, die Unterteilung in Nationalliteraturen, ist gelegentlich durchbrochen, da Schnitzler manche Autoren nicht den richtigen Ländern zuordnete, so ist Vincent van Gogh unter den Franzosen eingereiht (F60). Erstaunlich ist die Verwechslung im Falle des mit ihm befreundeten dänischen Schriftstellers Georg Brandes, den er Deutschland zuschlug (D63). Trotz solcher kleineren Mängel verbessert die Leseliste unsere Kenntnis von Arthur Schnitzlers Lektüren maßgeblich.

Für die Veröffentlichung der Liste wurde ein doppeltes Verfahren eingeschlagen. Einerseits wurde die Originalgestalt von Schnitzlers Leseliste bewahrt: Die Transkription gibt Schnitzlers Einträge diplomatisch wieder und differenziert dabei zwischen dem maschinenschriftlichen Grundtext (recte) sowie den handschriftlichen Nachträgen (kursiv). Andererseits wurde die Liste für die Benutzung so aufbereitet, dass ein rascher Zugriff möglich wird: Eine vom Herausgeber hinzugesetzte Sigle aller Autoren-Einträge nach Länderkennzeichen (wie ›D‹ für Deutschland oder ›F‹ für Frankreich) und landinterner Numerierung erlaubt Querverweise und eine eindeutige Zuordnung des bibliographischen Kommentars, der das Zentrum der editorischen Arbeit darstellt. Dort werden die vielfach kryptisch verknappten Einträge kommentiert: Autorennamen werden komplettiert und mit Geburts- und Sterbejahr versehen, mögliche Pseudonyme aufgelöst. Sofern Schnitzler unter den Autornamen einzelne Titel angibt, werden die gemeinten Werke in bibliographisch vollständiger Form angegeben und, soweit möglich und differenzierbar, mit Erscheinungsort und -jahr sowohl der Erstausgabe oder der spezifisch von Schnitzler benutzten Ausgabe versehen. Bei fremdsprachigen Titeln galt es zudem, die erste deutsche Übersetzung mit Übersetzer und Erscheinungsjahr zu ermitteln. Auch etwaige Doppelnachweise einer Lektüre sind verzeichnet: So wird auf Einträge im Tagebuch, das in vielen Fällen die Lektüre datieren lässt, ebenso verwiesen wie auf die zweibändige Auswahlausgabe der Briefe und auf die Autobiographie. Auch wird vermerkt, wenn ein Widmungsexemplar des genannten Werks an Schnitzler bekannt ist.9 Schließlich werden im Kommentar Schnitzlers Fehlattributionen richtiggestellt, etwa wenn er Werke verschiedener Autoren mit ähnlichem oder gleichem Nachnamen einem einzigen Schriftsteller zugewiesen hat.

Das Gesamtregister – Schnitzlers ›virtuelle Bibliothek‹

Die Leseliste liefert der Forschung nicht den einzigen Nachweis, ob Schnitzler einen bestimmten Titel gelesen hatte oder nicht. Auch in Briefen, seiner Autobiographie Jugend in Wien und vor allem in seinem Tagebuch hat Schnitzler Lektüren sowie Gespräche über Bücher und Theaterbesuche vermerkt. In der kritischen Edition der Tagebücher sind die Autoren und Titel, die Schnitzler namentlich nennt, verifiziert.10 Das ausführliche Register des Schlussbandes verzeichnet alle Autoren und Werke, die Schnitzler im Tagebuch erwähnt – allerdings unabhängig vom Zusammenhang und davon, ob es sich um Lektürenotizen oder bloße Titelnennungen handelt. Auch Werktitel in den Briefen lassen nicht immer erkennen, ob sie auf eigenen Lektüren Schnitzlers beruhen oder nur indirekt vermittelt sind, also etwa auf Essays oder Rezensionen in Wiener Tageszeitungen zurückgehen.

Im Anhang an die Edition der Leseliste sind in Form eines Gesamtregisters alle Autoren und Werke zusammengeführt, die Schnitzler in der Liste und/oder im Tagebuch erwähnt. Da darin zusätzlich auch die Titel- und Lektüreerwähnungen aus der Jugend in Wien und aus der Auswahlausgabe der Briefe eingearbeitet sind, repräsentiert dieses Gesamtregister die ›virtuelle Bibliothek‹ des Wiener Schriftstellers. Mit Hilfe des Gesamtregisters ist es leicht möglich, alle Texte, auch wenn Schnitzler sie in der Leseliste (alphabetisch oder hinsichtlich der Nationalliteratur) falsch eingeordnet hat, ausfindig zu machen, da die dort verzeichneten Autoren durch ihre Leselisten-Signatur (Länderkennzeichen und landesinterne Nummer) eindeutig gekennzeichnet sind. Für die Kurztitel im Gesamtregister, die in der Leseliste nachgewiesen sind, finden sich dort die präzisen Vollbelege. Die Kurztitel, die nicht in der Leseliste, sondern nur im Tagebuch und/oder in der Auswahlausgabe der Briefe oder in der Autobiographie nachgewiesen sind, übernehmen im allgemeinen die Angaben aus deren Registern, sind aber partiell präzisiert und modifiziert worden. So sind bei fremdsprachigen Texten Originaltitel und Übersetzung angegeben sowie manche Fehler stillschweigend verbessert.11

Zudem wird der Benutzer im positiven Fall auf das Tagebuch und/oder Briefe verwiesen und weiß andererseits im Fall der Fehlanzeige, dass der gesuchte Titel dort nicht erwähnt ist. Überdies ist die bibliographische Angabe im Gesamtregister präziser als im Registerband der Tagebuch-Edition. Vergleicht man die Titelzahlen aus Tagebuch und Leseliste im Gesamtregister miteinander, wird der Nutzen der Leseliste für die Schnitzler-Forschung augenfällig. Mehr als ein Fünftel der Namen und Titel sind ausschließlich in der Leseliste, nicht aber im Tagebuch oder in der Autobiographie oder der Auswahlausgabe der Briefe erwähnt. Die Leseliste verbessert somit unser Wissen von Schnitzlers Lektürekenntnissen gegenüber dem Tagebuch beträchtlich, von der genaueren Auflösung und bibliographischen Erfassung in vorliegender Edition ganz zu schweigen. Mehr als ein Viertel der Einträge im Gesamtregister sind Doppel- oder Dreifachbelege, sind also sowohl im Tagebuch, in den Briefen als auch in der Leseliste nachgewiesen. Warum der Großteil, nämlich etwa die Hälfte der Autornamen, nur im Tagebuch genannt ist, hat mehrere Gründe. Zum einen erwähnt Schnitzler im Tagebuch neben Opern- und Kinobesuchen viele Theateraufführungen, die ihn häufig mit ephemeren Produktionen entlegener Werke konfrontierten. Auch wenn die damalige Inszenierungspraxis eher werktreu war, ist die Rezeption im öffentlichen Raum eines Theaters wohl weniger intensiv als die private Lektüre. Doch wäre es sicherlich sinnvoll, neben der Lektüreliste separate Übersichten von Schnitzlers Theater-, Opern- und Kinobesuchen zu erstellen.12 Zudem verzeichnet das Register der Tagebücher unterschiedslos alle Titel literarischer Werke unabhängig davon, ob Schnitzler sie gelesen, sich darüber unterhalten oder sie nur erwähnt hat. Insofern bedeutet eine Erwähnung im Tagebuch keineswegs, dass Schnitzler die Autoren und Werke aufgrund eigener Lektüre auch wirklich kannte, sondern muss im Unterschied zur Lektüreliste im Einzelfall geprüft werden. Unser Gesamtregister, das die Angaben von Leseliste und Tagebuch sowie von Briefen und Autobiographie zusammenführt, unterscheidet aus naheliegenden pragmatischen Gründen nicht zwischen den diversen Rezeptionsformen.

Wenn die Leseliste also eine Vielzahl von Autoren anführt, die im Tagebuch oder in der Autobiographie und in der Briefausgabe nicht genannt werden, ist dies ein sehr viel größerer Gewinn, als die Zahl von 20 Prozent allein vermuten lässt: Zum einen verbergen sich hinter den zahlreichen Pauschalnennungen, die gerade die Klassiker und bekannten Autoren des 19. Jahrhunderts betreffen, zahlreiche Titel, ohne dass sie im Einzelnen aufgeführt wären. Zum andern handelt es sich bei den Einträgen um Werke, die Schnitzler tatsächlich gelesen hat und die er auch produktiv, in Allusionen, intertextuellen Bezugnahmen und Dialogen für eigene Dichtungen nutzte. Die Leseliste präzisiert insofern unsere Kenntnis von Schnitzlers Lektüregeschmack, als nur hier zahlreiche historische Autoren und so genannte ›Minderdichter‹ aufgeführt sind, die mittlerweile zu den Verschollenen und Vergessenen der Literaturgeschichte zählen.

Schnitzlers reale Bibliothek – Geschichte und Rekonstruktion

Dem Gesamtregister zufolge, das Leseliste, Tagebuch sowie Lektüre-Erwähnungen in der Korrespondenz und Autobiographie zusammenführt, besaß Arthur Schnitzler eine große Bibliothek. Sie ging nach seinem Tod im Jahre 1931 wahrscheinlich in den Besitz seines Sohnes Heinrich über. Eine Rekonstruktion von Arthur Schnitzlers Bibliothek ist kaum noch möglich. Daran sind weniger die unklaren Besitzverhältnisse schuld, die es nicht erlauben, Schnitzlers Bibliothek von dem Bücherbesitz seines Sohnes Heinrich zu trennen. Ungleich schwerer wiegt die Konfiskation der Bibliothek Heinrich Schnitzlers durch die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), die angeblich ohne Inventarisierung vor sich ging. Nach dem so genannten ›Anschluss‹ Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938 musste Heinrich Schnitzler emigrieren und flüchtete nach England. Während der literarische Nachlass seines Vaters gerettet werden konnte und heute in der Universitätsbibliothek Cambridge verwahrt wird,13 wurde 1939 »die Bibliothek von Heinrich Schnitzler, in der vermutlich auch Bücher seines Vaters Arthur Schnitzler nach dessen Tod im Jahr 1931 eingegangen sind, [...] Opfer eines besonders beschämenden Raubzugs«.,14 Heinrich argwöhnte wohl zu Recht, dass der damalige Leiter der Theatersammlung Joseph Gregor, der mit ihm und seinem Vater befreundet war, es gezielt auf seine Bibliothek abgesehen habe, denn schon nach dem Tod seines Vaters wollte sich die Österreichische Nationalbibliothek dessen Nachlass einverleiben, was Heinrich immer abgelehnt hatte.,15 Nach der sogenannten Arisierung bot die Direktion der Österreichischen Nationalbibliothek Heinrich Schnitzler denn auch eine Teilrückgabe gegen Autographen aus dem Besitz seines Vaters an.,16

Im Jahre 2004 hat sich die Österreichische Nationalbibliothek Wien mit ihrer aggressiven ›Erwerbungspolitik‹ im Dritten Reich selbstkritisch auseinandergesetzt.17 Danach diente die gezielte Arisierung bedeutender jüdischer Bibliotheken dem erklärten Ziel, zur größten Bibliothek des Reiches zu werden.,18 Zu den vereinnahmten ›Büchermassen‹ gehörte die Bibliothek von Heinrich Schnitzler, die angeblich ungefähr 6000 Bände umfasste.,19 Verglichen etwa mit der 1938 beschlagnahmten Bibliothek von Max Reinhardt, die 15000 bis 17000 Bände zählte,,20 war Arthur Schnitzlers Bibliothek, sofern sie mit der seines Sohnes gleichzusetzen ist, demnach nicht außergewöhnlich groß. Da gelegentlich auch die Zahl von 12000 Bänden genannt wurde, Heinrich Schnitzler möglicherweise bei der Übernahme der väterlichen Bibliothek Teile davon veräußert, verschenkt oder abgestoßen hat, bleibt der genaue Umfang allerdings fraglich. Zudem musste die Österreichische Nationalbibliothek im Zuge der Restitution im Jahre 1946 einräumen, dass die seinerzeit beschlagnahmten Bibliotheken »ohne nähere Angaben über ihren Bestand oder ihre Inbesitznahme abgeliefert wurden. Aus diesem Grunde können weder [...] über die Vollständigkeit, noch über den Bestand oder Wert derselben genaue Angaben gemacht werden«.,21 Für die Annahme, die beschlagnahmte Bibliothek habe deutlich mehr als 6000 Bände umfasst, spricht der Umstand, dass viel weniger Bücher restituiert wurden, als beschlagnahmt worden waren. Denn Dubletten, die durch die vielen beschlagnahmten Bibliotheken anfielen, wurden sogleich ausgesondert und an andere Bibliotheken verschenkt, viele Bände wurden ohne Provenienzvermerk einsigniert:,22 Noch 2004 wurden unter den einsignierten Beständen etliche Exemplare mit Widmungen an Arthur, Olga und Heinrich Schnitzler entdeckt. Daher ist die Angabe der Österreichischen Nationalbibliothek, die noch nicht einsignierten Bibliotheken – darunter auch die Heinrich Schnitzlers – seien restituiert worden,,23 zumindest zu relativieren. Die 1947 rückerstatteten Bücher sollten – so verfügte Heinrich Schnitzler testamentarisch – nach dem Tod seiner Frau Lilly wieder an die Nationalbibliothek gehen. Einen Großteil dieses Bestandes, rund 6000 Bände, hat Lilly Schnitzler schon zu Lebzeiten, im Jahre 1983 der Nationalbibliothek geschenkt.,24 Nach ihrem Tod im Jahre 2009 folgte der restliche Bücherbesitz, Widmungsexemplare an Arthur Schnitzler gelangten an das Deutsche Literaturarchiv Marbach.,25

Tatsächlich finden sich unter den restituierten Widmungsexemplaren viele Bände, die mit Besitzstempel der Österreichischen Nationalbibliothek und Signatur versehen waren, wie etwa Richard Schaukals dramatischer Erstling Rückkehr, Felix Saltens Buch der Könige, Raoul Auernheimers Gusseiserner Herrgott, Max Burckhards Komödie Jene Asra,... und Hermann Bahrs Roman Theater (vgl. Abb. 4–8). Dagegen tragen andere Widmungsexemplare, die zweifelsfrei aus Arthur Schnitzlers Bibliothek stammen und nach dem Krieg restitutiert wurden, weder Stempel noch Signatur der Nationalbibliothek, waren also nie offiziell den Beständen der Nationalbibliothek einverleibt worden. Zu solchen nicht »einsignierten« Büchern aus Schnitzlers Bibliothek, die zudem weder in der Leseliste noch im Tagebuch vorkommen, gehören etwa Widmungsexemplare von Richard Specht (Das Gastmahl des Plato), Anton Wildgans (Sonette aus dem Italienischen) oder Felix Salten (Fünf Minuten Amerika) (vgl. Abb. 9–11).

Freilich ist wohl damit zu rechnen, dass sich neben den Widmungsexemplaren, die noch im Jahre 2004 entdeckt wurden,26 weitere, bislang nicht identifizierte Bücher aus dem Besitz Schnitzlers in der ÖNB befinden. Eigene Nachforschungen im Jahre 2008 nach entlegenen Titeln aus Schnitzlers Leseliste in der ÖNB blieben allerdings ergebnislos.,27 Doch tauchten im Handel Widmungsexemplare an Arthur Schnitzler auf, die sicher aus seiner Bibliothek stammen wie etwa Franz Nabls Roman Ödhof (Abb. 12) oder die kleine Stefan Zweig-Monographie von W. Fred (d. i. Alfred Wechsler) (Abb. 13).28

Wegen der komplizierten Geschichte von Arthur Schnitzlers Bibliothek, die tiefgreifende Einschnitte erfahren hat, von der Integration in die Bibliothek des Sohnes Heinrich, der Konfiskation durch die Nationalsozialisten und fragwürdigen Restitution bis zur Vererbung an die Österreichische Nationalbibliothek, kommt der Leseliste eine besondere Bedeutung zu. Denn lässt sich die reale Bibliothek Arthur Schnitzlers nur noch in Teilen rekonstruieren, so dokumentiert die Leseliste im Verein mit dem Tagebuch sowie den Nachweisen in der Korrespondenz und der Autobiographie die tatsächlichen Lektüren Schnitzlers. Lektüreliste und Tagebuch machen es somit möglich, Schnitzlers Bibliothek zumindest virtuell wiedererstehen zu lassen und seine ›Leseleistung‹ umfassend zu dokumentieren. Arthur Schnitzlers virtuelle Bibliothek liegt im ›Gesamtregister‹ unserer Edition vor. Über den möglichen Buchbesitz hinaus ist hier festgehalten, was Schnitzler gelesen und was möglicherweise nicht nur seinen Lesehorizont ausmachte, sondern seine eigene schriftstellerische Tätigkeit beeinflusste.

Schnitzlers Lektüren und die Lesepräferenzen in Wien um 1900

Für die Literaturgeschichte wie für die allgemeine rezeptions- und kulturhistorische Forschung ist Schnitzlers Verzeichnis seiner Lektüren eine wichtige Quelle. Denn es erlaubt Rückschlüsse auf den literarischen Geschmack in gebildeten literarischen Kreisen in Wien vom Fin de siede bis in die späten Zwanziger Jahre und gestattet vergleichende Untersuchungen zum Wiener Lesepublikum im Allgemeinen.29 Dank Alberto Martinos gründlicher Studie sind die sozial-, geschlechts-, bildungs- und altersspezifischen Lesevorlieben im Wien der Jahrhundertwende gut aufbereitet. Das statistische Material der Wiener Ausleihbibliotheken lässt erkennen, dass die belletristischen Vorlieben relativ homogen waren. Sicherlich weicht Schnitzlers Lektüreliste weit ab von den Angeboten katholischer Lesevereine, in denen Unterhaltungsautoren wie Lina von Berlepsch, Maximilian Schmidt oder Ida Gräfin Hahn-Hahn dominieren,,30 doch führt seine Leseliste alle Favoriten der zeitgenössischen Wiener Leihbibliotheken an. Von den 22 meistgelesenen Autoren in den Wiener Volksbibliotheken um 1890 sind lediglich die fünf mit Asterisk markierten nicht in Schnitzlers Leseliste enthalten:,31 Berthold Auerbach, Felix Dahn, Alexandre Dumas, Georg Ebers*, Nataly Eschstruth*, Gustav Freytag, Friedrich Gerstäcker, Friedrich Wilhelm Hackländer, Wilhelmine Heimburg (Ps. Bertha Behrens)*, Mór/Maurus Jókai,,32 Paul Lindau, Eugenie Marlitt*, Fritz Mauthner, Georges Ohne(*), Peter Rosegger, Friedrich Spielhagen, Lev Tolstoj, Jules Verne, Elisabeth Werner, Adolf von Wilbrandt, Ernst von Wildenbruch und Julius Wolff. Zu den von Schnitzler nicht verzeichneten Namen zählen die seinerzeit populären Trivialschriftstellerinnen Eschstruth, Heimburg und Marlitt, die jedoch als seichte Vertreterinnen der Gartenlaube im Bildungsbürgertum verpönt waren.

Mehr noch als mit dem Geschmack von 1890 stimmt Schnitzlers Leseliste mit den allgemeinen Lektürepräferenzen von 1900 oder 1913 überein. So sind die Namen, die nach 1890 neu unter die Ausleihfavoriten gelangten, allesamt darin verzeichnet. Unter den am meisten gelesenen Autoren der Jahre 1900 und 1901 begegnen wieder aus der Bestenliste von 1890: Dumas, Eschstruth*, Freytag, Heimburg*, Marlitt*, Ohnet(*), Spielhagen, Tolstoi, Werner, Wilbrandt und von Wildenbruch. Neu dazu kommen: Rudolf Baumbach, Fedor Dostoevskij, Marie von Ebner-Eschenbach, Ludwig Ganghofer, Maksim Gorkij, Gerhart Hauptmann,

Gottfried Keller, Karl May, Eduard Pötzl(*), Joseph Viktor von Scheffel, Ossip Schubin [Ps. Aloisia Kirschner], Hermann Sudermann, Clara Viebig und Ernst Ludwig von Wolzogen. Von diesen 25 Autoren, welche in den Ausleihbibliotheken Wiens um 1900 am beliebtesten waren, sind nur fünf nicht auf Schnitzlers Leseliste verzeichnet; bezieht man das Tagebuch ein, verringert sich die Zahl sogar auf lediglich drei Fehlanzeigen, und zwar erneut auf die drei Dichterinnen der Gartenlaube. Ihre Konjunktur klang aber mit der Jahrhundertwende deutlich ab: Sie tauchen bezeichnenderweise in der Liste der meistgelesenen Werke von 1913, obgleich diese viel umfangreicher ist als die vorgängigen Ranglisten, gar nicht mehr auf. Der Geschmack des Wiener Lesepublikums im Jahre 1913 stimmt mit Schnitzlers Lektürevorlieben weitgehend überein: Von den 122 Autoren, welche in der modisch ausgerichteten Zentrale der Wiener Volksbibliothek um 1913 am meisten entliehen wurden, finden sich fast alle Autoren in Schnitzlers Leseliste.

Der diachrone Vergleich zeigt, dass sich Schnitzlers Lektürepräferenzen durchaus mit dem Zeitgeschmack decken. Doch lässt die Leseliste spezifische Vorlieben erkennen, die zudem von dem epochenspezifischen Geschmack der ästhetischen Elite der Wiener Moderne abweichen, soweit er sich aus deren Bibliotheken rekonstruieren lässt, die oft nur in Teilbeständen überliefert sind.33 Die recht heterogenen Büchersammlungen von Franz Grillparzer (†1872),,34 Hugo von Hofmannsthal (†1929),,35 Hermann Bahr (†1934),,36 Robert Musil (†1942),37 oder Richard Beer-Hofmann (†l945),,38 aber auch Sigmund Freuds (†1939),39 lassen – zumindest in Umrissen – unterschiedliche sprachliche, zeitliche und gattungsspezifische Präferenzen erkennen. So finden sich etwa in Hofmannsthals Bibliothek französisch-, englisch- und auch italienischsprachige Werke in viel größerer Zahl als bei Schnitzler, der außer deutschsprachigen Werken und Übersetzungen ins Deutsche lediglich französische Texte im Original las. Ohnehin teilt Schnitzler seine Vorliebe für die moderne französische Literatur (Flaubert, Balzac, Maupassant, Zola), aber auch für die französische Spätaufklärung (Casanova), mit den Vertretern des Jungen Wien wie Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal oder Richard Beer-Hofmann. Wenngleich die Leseliste zahlreiche Autoren der Klassischen Antike anführt, dürften diese in Schnitzlers Lektüren eine geringere Rolle gespielt haben als bei Hofmannsthal oder Beer-Hofmann. Unter den Gattungen ist die Lyrik unterrepräsentiert. Obgleich einige Lyriker der Jahrhundertwende wie Emanuel Geibel (D140), Detlef von Liliencron (D285) oder Felix Dörmann (D96) verzeichnet sind, fehlen andere prominente Dichter wie Stefan George oder Hugo Salus. Auch wenn die Lyrik sicher nicht zu den Genres zählte, die Schnitzler bevorzugte, so ist doch anzunehmen, dass er weitaus mehr Gedichte kannte, als er verzeichnete, und zudem wohl die eine oder andere Lyrikanthologie besessen hat.

Schnitzlers Lektürevorlieben

Ungeachtet der Überschneidungen mit den zeitspezifischen Lektürepräferenzen und den ästhetischen Vorlieben, die Schnitzler mit der ästhetischen Elite in Wien um 1900 teilte, vermittelt die Leseliste einen guten Eindruck seines persönlichen Literaturgeschmacks. Zwar wird dessen Wandel, der mit Schnitzlers Schaffensphasen einhergeht, weniger augenfällig als im Tagebuch, doch gewinnt das Profil der ästhetischen Vorlieben des Dichters klare Konturen.

Vor allem enthält die Leseliste viele längst vergessene Titel aus der Feder ebenfalls kaum noch bekannter Schriftsteller. Die Leseliste lässt Schnitzlers großen literarischen Horizont erahnen. Gelesen hat er die Klassiker und großen Dichter der Vergangenheit ebenso wie die Trivial- und Erfolgsautoren der Gegenwart. Die Liste lässt vermuten, dass Schnitzler zahlreiche literarische Reihen (zum Teil auch Kriminalliteratur) regelmäßig bezog.

So finden sich aus der seinerzeit bekannten Reihe »Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek« zahlreiche Erfolgstexte in Schnitzlers Leseliste. Die »Auswahl der besten modernen Romane aller Völker«, die im Stuttgarter Engelhorn-Verlag von 1884 bis 1930 erschien, repräsentiert neben Reclams Universalbibliothek und Kürschners Bücherschatz die erfolgreichste Reihe mit moderner Unterhaltungsliteratur.40 Sie war durchaus international ausgerichtet und legte rasch deutsche Übersetzungen aktueller, erfolgreicher europäischer Erzähltexte vor. Schnitzler rezipierte in dieser Reihe mehrere Romane, welche ganz unterschiedliche Spielarten der europäischen Moderne repräsentieren. So las er etwa in Engelhorns Roman-Bibliothek den auf religiöse Konflikte angelegten Roman Die Illusion des Doktor Faustino [Las ilusiones del doctor Faustino, dt.] des spanischen Schriftstellers Juan Valera y Alcalá Galiano (E9), der von 1893 bis 1895 spanischer Botschafter in Wien war, er las auch die satirisch-sozialkritischen Romane Gift [Gift, dt.] (1883) und Fortuna [Fortuna, dt.] (1886) des von Georg Brandes geförderten norwegischen Erzählers Alexander Lange Kielland (N34), den Künstlerroman Aus des Meeres Schaum [Dalia Spuma del Mare, dt.] (1876) des italienischen Erzählers Salvatore Farina (16), sowie die Pariser Ehen [Les mariages de Paris, dt.] (1886), Novellen des geistreichen Franzosen Edmond François Valentin About (F1). Die Kombination von sentimental gemäßigtem Naturalismus und psychologischem Realismus, welche die Verlagsreihe prägt, repräsentieren neben weniger bekannten deutschen Schriftstellern vor allem französische Autoren wie Alphonse Daudet (F37) (Frommont jeune), Hector Henri Malot (F98) (Baccara) oder Henri Gréville (F63) (Dosia).

Durch die teilweise ungenauen Angaben, was er jeweils von welchem Autor gelesen hat, ist es nicht einfach, in der Leseliste Schnitzlers Lieblingsautoren – jedenfalls in quantitativer Hinsicht – auszumachen. Denn was ist etwa mit dem »Vielen« gemeint, das er von Shaw gelesen hat? Hier lohnt es sich, das Tagebuch zu konsultieren, das 25 Titel des englischen Schriftstellers anführt. Die meisten Eintragungen der Leseliste finden sich in jedem Fall bei Balzac – mit 24 Titeln. Diese große Zahl erklärt sich jedoch leicht aus der großen Menge an Romanen, die Balzac geschrieben hat. Weitere Favoriten sind Ivan Turgenev ([R32] 22 Einträge), Fedor Michajlovic Dostojevskij ([R6] 19 Einträge), Emile Zola ([F182] 19 Einträge), Guy de Maupassant ([F107] 18 Einträge), der im Tagebuch nur mit fünf Titeln vorkommt, und Knut Hamsun ([N21] 15). Unter den deutschen Autoren ist die Auswahl breiter gestreut, hier sind die Autorenvorlieben weniger konturiert. Von den Schriftstellern, die mit Einzeltiteln genannt sind, ragen Berthold Auerbach ([D19] 16 Einträge) und Theodor Fontane ([Dl 17] 14 Einträge) heraus. An zweiter Stelle rangiert Aloisia Kirschner (1854–1934), die unter dem Pseudonym ›Ossip Schubin‹ (D391) zahlreiche Erzählungen und Romane verfasste und um die Jahrhundertwende zu den beliebtesten Autoren zählte.41 Schnitzler hat diese Modeautorin wohl nur in seiner Frühzeit rezipiert, denn es ist bezeichnend, dass sämtliche elf Titel, die in der Leseliste aufgeführt sind, alle vor dem Jahr 1890 erschienen sind; spätere Werke hat Schnitzler wohl nicht mehr registriert. Quantitativ zu Schnitzlers Lieblingsautoren (jeweils zehn Titelnennungen) zählt neben Max Burckhard (D71), Ende der 90er Jahre Direktor des Burgtheaters, der Dramaturg Herbert Eulenberg (D106), die beide mit ihm korrespondierten, und der westfälische Schriftsteller Levin Schücking (D390). Mit Heinrich Mann (D299) scheint zahlenmäßig Hans von Hopfen (D216) zu konkurrieren, doch die neun Titel, die bei beiden zu Buche stehen, werden insofern relativiert, als das Tagebuch 26 Titel Heinrich Manns aufführt. Unter den meistgelesenen Autoren taucht aber auch Catulle Mendès ([F108], elf Titel) auf, der heute weitgehend vergessen ist. Anton Cechov (R30), den Schnitzler außerordentlich schätzte, zählt mit lediglich elf Titelnennungen nicht zur absoluten Spitzengruppe.

Auch wenn allein die unspezifizierte Nennung vieler prominenter Autoren kein endgültiges Urteil über Lieblingsautoren und -bücher gestattet, zudem Wertungen und Stellungnahmen in der Liste fehlen, so lässt sich doch feststellen, dass Schnitzler vor allem die bekannten und erfolgreichen Autoren seiner Zeit intensiv las, die er zum großen Teil auch persönlich kannte:42 Mehr als 75% aller Autoren, die Schnitzler auf der Liste nennt, sind zu seinen Lebzeiten oder später gestorben. In der polnischen oder skandinavischen Literatur etwa befasste er sich ausschließlich mit der Literatur seiner Zeitgenossen. Hinzu kommt generell noch eine kleinere Menge von Texten aus dem 19. Jahrhundert. Ergänzt wird die Liste von sehr wenigen Texten, die vor 1800 erschienen sind. Einzig die Nationalliteraturen Italiens und Spaniens fallen ein wenig aus diesem Schema heraus, da hier die Klassiker einen größeren Anteil ausmachen. Warum Schnitzler in diesen beiden Literaturen stärker als die zeitgenössischen Texte die kanonischen Schriftsteller berücksichtigte, etwa Giovanni Boccaccio (13), Dante Alighieri (15) und Carlo Goldoni (18) bzw. Calderón (E2), Cervantes (E3) und Lope de Vega (E5), mag wohl zwei einfachen Gründe haben: Zum einen konnte er die Literaturen nicht im Original lesen, zum andern wurden sie viel weniger ins Deutsche übersetzt als die französische oder die russische Literatur.

Die geschmacksgeschichtliche Aussagekraft der Leseliste ist aber gerade hinsichtlich der zeitgenössischen Literatur eingeschränkt. Denn Schnitzler sparte in der Liste einige prominente zeitgenössische Texte aus, obwohl er sie zur Kenntnis genommen hatte. Solche Fehlanzeigen häufen sich besonders in der Spätzeit, als Schnitzler seine Lektüren zunehmend weniger regelmäßig in der Leseliste notierte.

Auf der Leseliste taucht etwa James Joyce’s Ulysses nicht auf, während Schnitzler im Tagebuch seine Lektüre protokolliert hat. Nachdem er am 13. Januar 1927 brieflich eingeräumt hat, dass es sich bei dem Ulysses vielleicht »um ein Meisterwerk handelt«,43 bemerkt er am 13. November 1927, dass er den »1. Band Ulysses Joyce zu Ende« gelesen habe und bemängelt als »Grundirrtum der Conception, dass alle Gedanken und Eindrücke von dem Denkenden und Empfindenden als gleichwertig gedacht und empfunden werden«. Am 26. November las er weiter im »Ulysses mit steigender Ungeduld«, bevor er sich über Tucholskys herabsetzenden Vergleich seiner »winzigen Versuche« im Inneren Monolog echauffiert.,44 Erst am

Januar 1928 setzte er die Lektüre fort, die er am 19. Januar schließlich beendet, um den Roman als das »ungeheure Missverständnis eines bewunderungswürdigen Talents« abzuwerten.

Ähnliches gilt für Marcel Proust, der mit dem zweiten Band seiner Recherche du temps perdu, A l’ombre de jeunes filles en fleurs, im Jahre 1919 den Prix Goncourt gewann. Proust wird in der Leseliste nicht genannt und da er auch im Tagebuch-Register nur namentlich ohne Werk geführt ist, kommt er auch im Gesamtregister nicht vor. Dabei war Schnitzler mit dem deutschen Proust-Übersetzer Hans Jacob persönlich gut bekannt, bevor er am 24. April 1924 »begann Proust zu lesen«.45 Im Juni 1924 führt er mit Hans Jacob ein Gespräch »über Proust« und liest »Proust mit wachsendem Interesse«.,46

Neben dem vorherrschenden Anteil zeitgenössischer Literatur lassen sich anhand der Leseliste auch inhaltliche geschmackliche Vorlieben oder Indifferenzen erkennen. Fast komplett fehlen auf der Liste lyrische Texte – eine Gattung, die auch in Schnitzlers Werk weitgehend fehlt -, während epische Werke klar dominieren. In den kleineren Nationalliteraturen Polens oder Ungarns sind sogar fast nur epische Werke verzeichnet. Der Vorrang erzählerischer Werke erstaunt deswegen, weil Schnitzler sich selbst stark für das Theater interessierte. Diesen einseitigen Eindruck der Leseliste können das Tagebuch und das Gesamtregister insofern korrigieren, als dort sehr viele Dramen verzeichnet sind, die Schnitzler freilich oft nicht lesenderweise, sondern im Theater gesehen und rezipiert hat. Durch diese Korrektur wird deutlich, dass die Dramatik zwar auf der Leseliste nicht so stark vertreten ist, wie man annehmen sollte, dass sie für den Autor Schnitzler aber doch von großer Bedeutung war – aber eben in ihrem eigentlichen Wirkungskreis, dem Theater.

Innerhalb des erzählerischen Genres fällt zudem der relativ große Anteil an Memoiren, Biographien und Autobiographien auf. Schnitzler scheint sich für das Leben bedeutender Zeitgenossen, aber auch verstorbener Dichter und Schauspieler interessiert zu haben und hat sich deshalb ausführlich mit dem Genre der Biographie im weitesten Sinne, aber auch mit Briefen und historischen Darstellungen beschäftigt. Dennoch ist gerade hinsichtlich der Sachbuchliteratur eine große Dunkelziffer anzunehmen. Dass Schnitzler etwa historiographische Werke, die er für seine historischen Dichtungen konsultierte, keineswegs alle verzeichnete, zeigt exemplarisch die Entstehungsgeschichte des Jungen Medardus: Von den sieben Schriften, die Schnitzler nachweislich als Quellen seines Dramas dienten, sind nur zwei im Tagebuch erwähnt, davon ein Titel auch in der Leseliste.47

Schnitzlers Lesegewohnheiten

Über Arthur Schnitzlers Lesegewohnheiten und Lektüretechniken sind wir durch das Tagebuch, die Autobiographie, die Briefe und Interviews recht gut informiert. Sie dokumentieren eindrücklich, welch leidenschaftlicher Leser Schnitzler war.

Im Tagebuch hat er größtenteils seine Lektüren protokolliert, allerdings schwankt und ändert sich die Verzeichnungstechnik im Laufe der Jahre. Vor allem in der Frühzeit ist das Tagebuch uneinheitlich, es reicht von ausführlichen, erzählenden Einträgen bis zu spärlichen Notizen. Für manche Lebensphasen sind die Lektüren recht genau aufgezeichnet, in anderen, etwa den Jahren 1897 bis 1899, finden sich, von Theaterbesuchen und Lesungen im Freundeskreis abgesehen, so gut wie keine Lektürenotizen. In den späteren Jahren werden die Lektürenotate regelmäßiger. Aber auch wenn Lektüren festgehalten sind, begnügt sich Schnitzler oft damit, den Titel des Gelesenen zu nennen, Kommentare beschränken sich meist auf allgemeine Geschmacksurteile.

Typisch für Schnitzler ist die Parallellektüre, bezeugt etwa durch retrospektive Einträge, die mehrere gleichzeitige Lektüren resümieren.48 Deutlicher noch wird das Nebeneinander diverser Lektüren beispielsweise im Eintrag vom 16. Februar 1913: »Lese: Björnson ›Es flaggen etc.‹ – Rahel-Varnhagen Briefwechsel, Grillparzer Gespräche, Vehse (Hannover) – Bürger Briefe, etc. – Havelock Ellis Welt der Träume ausgelesen«.,49 Die Zusammenstellung zeigt, welch unterschiedliche Texte Schnitzler gleichzeitig liest: zum einen den Gegenwartsroman des norwegischen Dichters Björnson Det flager i Byen og paa Havnen (1884), der unter dem Titel Es flaggen Stadt und Hafen in der fünfbändigen Werkausgabe bei S. Fischer erschienen war,50 zum andern literarhistorisch bedeutende Werke in relativ aktuellen Ausgaben: Die mehrbändige Korrespondenz von Rahel und Karl August Varnhagen von Ense lag seit 1874/75 vor,,51 die Gespräche Grillparzers hatte August Sauer gerade ediert,,52 die vierbändige Ausgabe der Briefe Gottfried August Bürgers stammt von 1874.,53 Ergänzt wird diese literarhistorische Reihe durch eine kulturhistorische Lektüre, ein Werk aus der seinerzeit beliebten Hofgeschichte von Eduard Vehse,,54 und durch ein aktuelles psychologisches Werk, die Welt der Träume (1911) des britischen Sexualforschers Havelock Ellis.55 Ein vergleichbarer Eintrag findet sich am 7. Juni 1921, der an einem einzigen Tag die Lektüre von sieben verschiedenen Werken verzeichnet: »Las zu Ende das Wahl’sche Buch Louis Ferdinand, dann Lily Braun: Im Schatten der Titanen; die Wanderjahre. – Lese u. a. Genee, Shakespeare in Deutschland; Boehn Mode des XVIII. Jh.; – Stendhal, Rouge et noir (z. 2. M.)«.,56 Die Parallelektüre mehrerer Werke, faktualer und fiktionaler Texte, entspricht als rezeptionsästhetisches Pendant dem produktionsästhetischen Nebeneinander, dem gleichzeitigen Arbeiten an mehreren Projekten, wie es Schnitzler praktizierte.

Ebenso charakteristisch wie die Parallellektüre ist die iterative Lektüre. Einige Titel las Schnitzler mehrfach. Dazu zählt etwa Gustave Flauberts Madame Bovary (F50), die Schnitzler zuerst 1880, unmittelbar nach Flauberts Tod, wie ein ›Evangelium‹ rezipiert.57 1896 erkundigt er sich bei Marie Reinhard nach deren Lektüre,,58 liest auf seiner Deutschlandreise 1899 wieder »die Madame Bovary«,59 und führt 1916 ein Literaturgespräch mit Josef Popper (Ps. Lynkeus) über die Bovary.60 Immer wieder neu rezipierte Schnitzler auch Texte Goethes, sowohl durch Lektüre wie durch Theaterbesuche. Allein in den 17 Monaten von März 1895 bis August 1896 sah Schnitzler acht Aufführungen von Goethe-Dramen in Wien (Faust I und II, Götz von Berlichingen, Clavigo und Tasso)61 Doch sind auch von einigen erzählenden Schriften Goethes Mehrfachlektüren festgehalten: So las Schnitzler 1896 Dichtung und Wahrheit und fragt sich bei der Relektüre 1908 selbst im Tagebuch, ob »zum 3. oder 4. ? Mal«; als er 1914 sowie 1919 Dichtung und Wahrheit erneut wiederliest, mutmaßt er allerdings wieder jeweils »zum 3. Mal«, bevor er Goethes Autobiographie 1920 ein letztes Mal liest.62 1905 und 1920 beschäftigte sich Schnitzler mit Goethes Briefwechsel mit dem Weltmann Karl Friedrich Reinhard,,63 und als er 1920 die Lektüre von Wilhelm Meisters Lehrjahren festhält, notiert er: »zum 3. oder 4. Mal«.64

Schnitzler als Leser im Bild: die Bibliothek des Dichters in zeitgenössischen Photographien

Auch wenn Schnitzler gerne im Garten oder im Zug während seiner zahlreichen Bahnreisen las, ist die Bibliothek und sein Arbeitszimmer sein bevorzugter Lektüreort. Schnitzler inszenierte sich auch öffentlich in seiner Bibliothek und als Leser. So präsentieren ihn frühe Aufnahmen der Berliner Photographin Aura Hertwig als Leser.65 Wie sehr Schnitzler etwa Gerhart Hauptmann verehrte, dokumentiert ihr Porträt-Photo aus dem Jahre 1905 (Abb. 14). Es präsentiert Schnitzler in lässiger Haltung mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem historistisch dekorierten Stuhl vor einem Photo an der Wand, das Gerhart Hauptmann in entgegengesetztem Profil zeigt.,66 Eine weitere Aufnahme von 1905 zeigt Schnitzler, auf einem Armlehnstuhl sitzend, dem Betrachter zugewandt, mit einem großen Buch in Händen vor einer Bücherwand, die wie eine Arbeitsbibliothek wirkt (Abb. 15).,67 Kurz danach porträtiert Aura Hertwig in einer halbnahen Aufnahme den Dichter in einem Ledersessel sitzend, mit einem offenen Buch oder gebundenen Manuskript im Schoß und einem Papiermesser in der geschlossenen rechten Hand. Eine Bücherwand im Hintergrund zeigt, dass der Dichter auch Leser ist. Diese Aufnahme, die Schreiben und Lesen augenfällig kombiniert, fand wohl die ausdrückliche Zustimmung des Dichters, der davon Ansichtskarten drucken ließ (Abb. 16).,68 In einer Aufnahme aus dem Jahre 1926 zeigt Ilse Ross in einer halbtotalen Einstellung den Dichter, der sich an sein Bücherregal lehnt (Abb. 17).,69

Wie eng Rezeption und Produktion Zusammenhängen, illustrieren Schnitzlers photographische Selbstinszenierungen in seiner Bibliothek und in seinem Arbeitszimmer. Bereits sein Arbeitszimmer in der Frankgasse 1, wo Schnitzler nach dem Tod seines Vaters gemeinsam mit seiner Mutter zwei getrennte Wohnungen bezogen hatte, bekundet seine Goethe-Verehrung. So zeigt ihn eine Aufnahme des Hofphotographen Anton Huber, die anlässlich der »Erstaufführung des Einactercyklus ›Lebendige Stunden‹« am 4. Januar 1902 publiziert wurde, vor einer Reihe von Antiken-Repliken und -Fotografien, hinter einer verkleinerten Nachbildung der berühmten Goethe-Büste von Christian Daniel Rauch (Abb. 18).70 In späteren Aufnahmen seiner Bibliothek und seines Arbeitszimmers in der Sternwartestraße 71, wo Schnitzler mit seiner Familie seit 1910 bis zu seinem Tod lebte, ist seine Goethe-Verehrung noch augenfälliger. In späten Aufnahmen schmückt die Wand hinter dem Stehpult neben zwei beliebten Silhouetten – sie stellen Goethe mit Fritz von Stein (1783) und Goethe vor einer Büste (um 1780) dar – und diversen faksimilierten Autographen eine Photographie des Gelben Salons im Haus am Frauenplan. Überdies ziert die Replik einer Goethe-Statuette nach Christian Daniel Rauchs bekannter Plastik das Pult (Abb. 19).,71 Noch eine Zeichnung aus Schnitzlers Todesjahr 1931 präsentiert den Dichter lesend hinter dem Stehpult (Abb. 20).,72 Wie die Inszenierungen des Dichters in zeitgenössischen Photographien zeigen, ist Schnitzlers Bibliothek aber nicht nur in rezeptionsästhetischer Hinsicht aufschlussreich.

Der Leser als Dichter: der produktionsästhetische Aspekt der ›Leseliste‹ und virtuellen Bibliothek

Schnitzler war nicht nur ein großer Leser, er nutzte die Bibliothek auch ausdrücklich als Inspirationsraum, wie er in einem Interview von 1930 mit George Sylvester Viereck bekundet. Auf dessen Frage, ob er »im Freien« arbeite, antwortete Schnitzler: »Nein [...] mir kommen die Gedanken am leichtesten in meiner Bücherei«.73

Seit seiner Jugend diente Schnitzler die Lektüre als Spiegel seines Seelenzustands und als Anregung zu eigenen literarischen Arbeiten. So verwundert es nicht, dass er im Sommer 1881, in einer Krise seines Studiums und Lebens, sich identifikatorisch mit Ludwig Börnes kritischen Reisebriefen aus Paris beschäftigt: »Lese jetzt Börnes Briefe aus Paris. Regen mich sehr an«.74 Hatte er schon ein Jahr zuvor seinen Ennui und Lebensekel bei Börne gestärkt, so bekunden die Sätze, welche die Lektüre-Notiz rahmen, erneut den inzitierenden Ich-Bezug durch Börne: »Muss halt weiterdämmern [...] – Sonst langweile ich mich. Noch dazu auf gar keine angenehme Weise«.,75

Zu einem ähnlichen Dialog ›angeregt‹ fühlt sich Schnitzler auch, nachdem er den Roman Was tun (Čto delat’?) des russischen Sozialphilosophen Nikolai Gavrilovic Cernysevskij (1828–1889) gelesen hat, »der mich lebhaft anregte. Socialistische Probleme; etwas utopistisch aufgefasst. Ein sonderbarer Nihilismus der von ›neuen Menschen‹ träumt. Meiner Ansicht nach sind die Menschen, die der Autor so gerne als ›neue Menschen‹ darstellen möchte, zu jeder Zeit dagewesen – aber es wird nie die Zeit kommen, wo die Mehrzahl aus solchen ›neuen Menschen‹ besteht«.76

Größte Bedeutung erlangt die Leseliste aus intertextueller Sicht: Schnitzler hat nachweislich in einigen Fällen strukturell oder onomastisch markierte intertextuelle Bezüge zu Werken seiner Zeit, aber auch der Vergangenheit hergestellt (etwa in Die Toten schweigen zu Gustave Flauberts Madame Bovary oder in Die Nächste zu George Rodenbachs Bruges-la-morte)77 Bei nicht markierten, aber eindeutig nachweisbaren intertextuellen Bezügen ermöglicht es die Leseliste, ein weiteres Indiz für die angenommene Intertextualität hinzuzufügen. So lässt sich ein mutmaßlicher intertextueller Bezug der Kleinen Komödie zu Paul Hervieus kurz zuvor erschienenem Roman Peints par eux-mêmes (F71) ebenso erhärten wie die Annahme, Guy de Maupassants Horla (F107) sei der maßgebliche Prätext für die Flucht in die Finsternis. Auch intertextuelle Bezüge von Alphons Daudets Sapho (F37) und Fedor Dostoevskijs Spieler zum Spiel im Morgengrauen lassen sich auf diese Weise empirisch validieren – um weitere Beispiele zu nennen, welchen sich nachzugehen lohnte. Allerdings trifft der Umkehrschluss nicht zu: Auch wenn ein Titel nicht auf der Leseliste verzeichnet ist, kann Schnitzler das Werk durchaus gekannt haben. Dies gilt nicht nur für die faktuale Literatur wie historiographische und medizinische Darstellungen, die er in seinen Werken verarbeitet hat.

Iwan Blochs unter dem Pseudonym Gerhard von Welsenburg veröffentlichte sexualgeschichtliche Abhandlung über Das Versehen der Frauen in Vergangenheit und Gegenwart (1899), der entscheidende Prätext für Andreas Thameyers letzten Brief, befand sich in Schnitzlers Bibliothek, ohne dass es aber in Leseliste oder Tagebuch verzeichnet wäre.78 Aber auch Matthias Claudius taucht weder in Leseliste noch Tagebuch auf, obgleich ihm Schnitzler den Titel seiner Erzählung Wohltaten, still und rein gegeben abgeborgt hat.79 Doch können solche vereinzelten Fehlanzeigen den Wert der Leseliste und der virtuellen Bibliothek kaum schmälern, die künftig ein wichtiges Hilfsmittel der Schnitzler-Forschung sein möge.

Anmerkungen
  1. Vgl. Arthur Schnitzler: Alphabetisches Verzeichnis gelesener [...] Bücher (FF O III, 1, Bl. 2–42 – Cambridge Schnitzler A 178).
  2. Zu den rühmlichen Ausnahmen zählt Françoise Derré: L’œuvre d’Arthur Schnitzler. Imagerie viennoise et problemes humains. Paris 1966 (Germanica 9).
  3. Die salvatorische Notiz auf dem Vorsatzblatt (FF O III, 1, Bl. 2) von Weihnachten 1911 (vgl. Anm. 6) ist erst nachträglich angebracht worden und nicht das Datum der Niederschrift.
  4. Arthur Schnitzler: Jugend in Wien. Wien, München und Zürich 1968, Erstes Buch (Mai 1862 – Mai 1875), S. 23 [künftig JW].
  5. JW, 23.
  6. Vgl. Schnitzler: Alphabetisches Verzeichnis gelesener [...] Bücher (FF O III, 1, Bl. 2 – Cambridge Schnitzler A 178, Bl. 2). Ohne den Vorbehalt Schnitzlers prinzipiell in Frage stellen zu wollen, sei darauf hingewiesen, dass die Leseliste immerhin auch einige wenige Manuskripte anfuhrt wie Texte von Robert Adam Pollak [D3] oder Dramen von Jean Billiter [D45] und Karl Burger [D70].
  7. Immer wieder hat Schnitzler im Freundeskreis eigene Texte vorgelesen und nahm an zahlreichen Leseabenden teil, an denen seine Wiener Dichterfreunde und -kollegen Proben aus ihren Werken vorlasen.
  8. Das Tagebuch-Exzerpt, ein Typoskript, bestehend aus 64 Blättern, findet sich im Schnitzler-Nachlass der Universitätsbibliothek Cambridge (NL Nr. 174), eine Kopie verwahrt das Arthur Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg FF O III, 3). Ediert hat es Reinhard Urbach: Arthur Schnitzler: Notizen zu Lektüre und Theaterbesuchen (1879–1927). In: Modem Austrian Literature 6 (1973), Nr. 3/4, S. 7–39. Diese und noch mehr Lektürenotizen finden sich in: Arthur Schnitzler: Tagebuch. Unter Mitwirkung von Peter Michael Braunwarth, Susanne Pertlik und Reinhard Urbach hg. von der Kommission für literarische Gebrauchsformen der ÖAW, Obmann: Werner Welzig. 10 Bde. Wien 1981–2000 [künftig Tgb].
  9. Widmungsexemplare an Schnitzler sind bislang nicht systematisch erfasst. Sie befinden sich zum großen Teil im DLA Marbach, das diesen Bestand nach dem Tod von Arthur Schnitzlers Schwiegertochter Lilly übernommen hat. Zwei Widmungsexemplare an Schnitzler verwahrt das Freiburger Arthur-Schnitzler-Archiv.
  10. Die Angaben sind im Gesamtverzeichnis der Personen und Werktitel in: Tgb 1931 / Gesamtverzeichnisse 1879–1931, S. 139–589, aufgeschlüsselt. Vgl. dazu die Online-Aktualisierung, zu finden über: »oeaw.ac.at« (Titel: »Berichtigungen und Ergänzungen zum Band: Tagebuch 1931 / Gesamtverzeichnisse 1879–1931«). In der Ausgabe der Briefe sind die Titel in den Anmerkungen verifiziert; vgl. Arthur Schnitzler: Briefe [I:] 1875–1912. Hg. von Therese Nickl und Heinrich Schnitzler. Frankfurt/M. 1981, und Briefe [II:] 1913–1931. Hg. von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik und Heinrich Schnitzler. Frankfurt/M. 1984 [künftig BI und BII], Die literarischen Bezüge in der Autobiographie JW sind durch ein Namenregister mittelbar zu erschließen.
  11. So ist beispielsweise im »Gesamtverzeichnis der Personen und Werktitel« der Tagebücher gelegentlich ein Verfassername unrichtig ergänzt: Statt »Thebault, Paul-Charles-François: Friedrich der Große« heißt der Verfasser richtig: Dieudonné Thiébault.
  12. Schnitzlers Kinobesuche hat Julia Ilgner: Ein Wiener »Kinoniter«! Arthur Schnitzlers Filmgeschmack. In: Arthur Schnitzler und der Film. Hg. von Achim Aumhammer, Barbara Beßlich und Rudolf Denk, Würzburg 2010, S. 135–153, ausgewertet und die Titel der Filme verifiziert, die Schnitzler gesehen hat. Ergänzend dazu vgl. auch »A. ist manchmal wie ein kleines Kind«. Clara Katharina Pollaczek und Arthur Schnitzler gehen ins Kino. Hg. von Stephan Kurz und Michael Rohrwasser. Unter Mitarbeit von Daniel Schopper Wien 2012 (Manu Scripta 2).
  13. Vgl. Lorenzo Bellettini und Christian Staufenbiel: The Schnitzler Nachlass. Saved by a Cambridge Student. In: Schnitzler’s Hidden Manuscripts. Hg. von Lorenzo Bellettini und Peter Hutchinson. Oxford u.a. 2010, S. 11–22. Die Briefe und Tagebücher dagegen rettete Heinrich Schnitzler selbst und gab sie später dem Deutschen Literaturarchiv Marbach. Kopien verwahrt das Arthur-Schnitzler-Archiv Freiburg/Br., erschlossen durch ein Findbuch (FF) von Jutta Müller und Gerhard Neumann: Der Nachlass Arthur Schnitzlers. Verzeichnis des im Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg i. Br. befindlichen Materials. Mit einem Vorwort von Gerhart Baumann und einem Anhang von Heinrich Schnitzler: Verzeichnis des in Wien vorhandenen Nachlassmaterials. München 1969.
  14. Evelyn Adunka: Der Raub der Bücher. Plünderung in der NS-Zeit und Restitution nach 1945. Wien 2002, S. 106-111 und 261, hier 106. Überliefert ist ein Schreiben der Geheimen Staatspolizei an die Generaldirektion der Nationalbibliothek vom 7. Juni 1940, in dem mitgeteilt wird, dass »die sichergestellte Bibliothek des jüdischen Schriftstellers Arthur Schnitzler [...] endgültig beschlagnahmt und [...] dortigen Institut zur weiteren Verwertung überlassen« wird. Vgl. dazu Margot Werner: Die Bibliothek Arthur Schnitzler. Eine Enteignung. In: Raub und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1938 bis heute. Ausstellungskatalog des Jüdischen Museums Berlin. Hg. von Inka Bertz und Michael Dorrmann. Göttingen 2008, S. 202–208, sowie dies.: Die Enteignung der Bibliothek Arthur Schnitzlers: In: Raub und Rückgabe. Österreich von 1938 bis heute. Bd. 3: Enteignete Kunst. Hg. von Verena Pawlowsky und Harald Wendelin. Wien 2006, S. 158–176. – Zur Beschlagnahmung und Restitution von Heinrich Schnitzlers Bibliothek vgl. auch Lisa Paar: NS-Raubgut und die Österreichische Nationalbibliothek. Von »arisierten« Beständen zur Provenienzforschung. Ein historischer Querschnitt. Diplomarbeit FH Eisenstadt 2008, S. 26–30.
  15. Adunka (Anm. 14), S. 108f. Joseph Gregor betrieb auch die »Schenkung« eines Teils von Stefan Zweigs Autographensammlung im Jahre 1937 (vgl. Peter Malina: Von Büchern und Menschen. Neue Veröffentlichungen zur NS-Geschichte des Bibliothekswesens. In: Mitteilungen der VÖB 60 (2007), Nr. 1, S. 45–66, hier 56) und den Erwerb der Theatersammlung Helene Richters (vgl. Christiane Hoffrath: Bücherspuren. Das Schicksal von Elise und Helene Richter und ihrer Bibliothek im ›Dritten Reich‹ Köln u.a. 2009). Zu Gregor allgemein vgl. Joseph Gregor. Gelehrter – Dichter – Sammler. Hg. von Christiane Mühlegger-Henhapel. Frankfurt/M u.a. 2006.
  16. Adunka (Anm. 14), S. 108.
  17. Vgl. Geraubte Bücher. Die Österreichische Nationalbibliothek stellt sich ihrer NS-Vergangenheit. Hg. von Murray G. Hall, Christina Köster und Margot Werner. Wien 2004. Es handelt sich um die flankierende Publikation zu einer Ausstellung.
  18. Christina Köster: »Für Jürgens bleiben auf jeden Fall Massen!« Die Erwerbungspolitik der Nationalbibliothek zwischen 1938–45. In: Hall, Köster, Werner 2004 (Anm. 17), S. 30-41, hier 30.
  19. Ebd., S. 34. Paar (Anm. 14), S. 28, spricht von 6000 bis 12000 Bänden. Joseph Gregor nennt in seinem Brief an Paul Heigl, Generaldirektor der ÖNB, vom 10. Mai 1939 die Zahl von 10000-20000 Bänden. Zit. nach Margot Werner 2006 (Anm. 14), S. 16.
  20. Köster (Anm. 18), S. 34.
  21. Schreiben der ÖNB vom 9.11.1946 zit. nach Margot Werner: Der Umgang der ÖNB mit ihrer NS-Vergangenheit. In: Hall, Köster, Werner 2004 (Anm. 17), S. 42–53, hier 42.
  22. Ebd., S. 44.
  23. Ebd., S. 47.
  24. Adunka (Anm. 14), S. 111.
  25. Nach offizieller Meldung aus dem Österreichischen Bundeskanzleramt übernahm die Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB) im Juli 2010 rund 8.000 Bücher aus der Bibliothek des Schriftstellers Arthur Schnitzler.
  26. Ebd., S. 53.
  27. Keines der etwa fünfzig Bücher der Leseliste, die stichprobenweise geprüft wurden, stammte erkennbar aus dem Besitz Schnitzlers.
  28. Beide Bände konnten mittlerweile für das Arthur Schnitzler-Archiv der Universität Freiburg erworben werden.
  29. Vgl. Alberto Martino: Lektüre in Wien um die Jahrhundertwende (1889–1914). In: Buchhandel und Literatur. FS Herbert G. Göpfert. Hg. von Reinhard Wittmann und Bertold Hack. Wiesbaden 1982, S. 314–394. Ein Auszug daraus ist die titelgleiche Studie von A. M. in: Die österreichische Literatur. Ihr Profil von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart (1880-1980). Hg. von Herbert Zeman. Teil 1. Graz 1989, S. 95–112.
  30. Martino 1982 (Anm. 29), bes. S. 370–374.
  31. Ein eingeklammerter Asterisk wie hinter dem Namen von Georges Ohnet bedeutet, dass keine Lektüre in der Leseliste, sondern im Tagebuch nachgewiesen ist.
  32. Jókais Rezeption in Österreich-Ungarn dokumentiert Hedvig Ujväri: Kulturtransfer in Kakanien. Zur Jókai-Rezeption in der deutschsprachigen Presse Ungarns (1867–1882). Berlin 2011.
  33. Vgl. dazu Roland Folter: Deutsche Dichter- und Germanistenbibliotheken. Eine kritische Bibliographie ihrer Kataloge. Stuttgart 1975, und das Verzeichnis von »Dichter-, Gelehrten- und Künstlerbibliotheken« in: Wolfenbütteler Bibliographie zur Geschichte des Buchwesens im deutschen Sprachgebiet 1840-1980 (WBB). Hg. von Erdmann Weyrauch. Bd. 7: Der Leser. München 1998, S. 145–158.
  34. Verzeichnis von Franz Grillparzers Bibliothek [im Wiener Rathaus]. Hg. von Rudolf Payer-Thum. In: F. G.: Sämtliche Werke. Hist.-krit. Gesamtausgabe. Hg. von August Sauer. Abt. II, Bd. 12 (Wien 1930), S. X-XVIII, 97–212, 300–308. Die Bibliothek, die 474 Nummern umfasst, ist präzise beschrieben.
  35. Vgl. Michael Hamburger: Hofmannsthals Bibliothek. Ein Bericht. In: Euphorion 55 (1961), S. 15–76. Die Bibliothek, die das Freie Deutsche Hochstift Frankfurt verwahrt, ist allerdings nur eine Teilbibliothek. Den überlieferten Bestand mit allen Lesespuren und Eintragungen dokumentiert jetzt der im Rahmen der Werkausgabe erschienene Band: Hugo von Hofmannsthal: Sämtliche Werke. Bd. XL: Bibliothek. Hg. von Ellen Ritter. Frank- furt/M. 2012. Er zeigt, in welch starkem Maße das Werk anderer Autoren Hofmannsthals Schaffen anregte.
  36. Bahrs Bibliothek befindet sich heute in der Studienbibliothek Salzburg; vgl. P[aul] Thun-Hohenstein: Hermann Bahr und die Bücher. In: Jahrbuch dt. Bibliophilen 20 (1934), S. 49–52.
  37. Teile von Robert Musils Bibliothek finden sich im Robert-Musil-Institut für Literaturforschung in Klagenfurt, eine Sammlung von Büchern aus Musils Besitz verwahrt die Arbeitsstelle für österreichische Literatur an der Universität Saarbrücken; vgl. Murray G. Hall und Gerhard Renner: Handbuch der Nachlässe und Sammlungen österreichischer Autoren. Wien u.a. 21995, S. 237f.
  38. Einen Teil der Handbibliothek findet sich zusammen mit dem handschriftlichen Nachlass in der Houghton Library, Harvard University, Cambridge (Mass.). Beer-Hofmann hatte den größeren Teil seiner Bibliothek noch in Wien verkauft.
  39. Vgl. Freud’s Library. A Comprehensive Catalogue. Freuds Bibliothek. Vollständiger Katalog. Hg. von J. Keith Davies und Gerhard Fichtner. London und Tübingen 2006 (Quellen und Abhandlungen zur Geschichte der Psychoanalyse, 2). Mit einem Umfang von knapp 3600 Werktiteln zählt die Bibliothek Freuds zu den mittelgroßen Gelehrtenbibliotheken der Zeit.
  40. Vgl. Robert N. Bloch: Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek (1884–1930). Eine Bibliographie. Gießen 2006, sowie ders.: Kürschners Bücherschatz (1897–1923). Eine Bibliographie. Gießen 2005. Zu den mehreren Buchreihen, die im 19. Jahrhundert begründet wurden, und deren verlegerischen Konzepten siehe den buchgeschichtlichen Überblick von Christine Haug: Reisen und Lesen im Zeitalter der Industrialisierung. Die Geschichte des Bahnhofs- und Verkehrsbuchhandels in Deutschland von seinen Anfängen um 1850 bis zum Ende der Weimarer Republik. Wiesbaden 2007, bes. S. 124ff.
  41. Schubin ist in der Literaturgeschichtsschreibung sträflich vernachlässigt geblieben; zu den löblichen Ausnahmen zählen der Überblick von Konstanze Fliedl: »Verkannt und verfehlt«: Zum Werk Ossip Schubins. In: Philologica Pragensia 33 (1990), S. 48–55, und eine geschlechtergeschichtliche Studie von Sigrid Schmid-Bortenschlager: Die Übertragbarkeit von Geschlechtertypologien: Am Beispiel von Ossip Schubin. In: Literatur im Wandel. FS Viktor Žmegač. Hg. von Marijan Bobinac. Zagreb 1999, S. 93–99.
  42. Die Schriftsteller, mit denen Schnitzler korrespondierte, sind im Gesamtregister durch einen Asterisk kenntlich.
  43. Vgl. Arthur Schnitzler an Sylvia Beach, Wien am 13.1.1927. In: Briefe II, S. 469f.
  44. Tgb 28.11.1928.
  45. Tgb 24.4.1924.
  46. Vgl. Tgb 1.6.1924, 14.6.1924 und 27.6.1924.
  47. Nach freundlicher Auskunft meines Doktoranden Hans Peter Buohler. Verzeichnet sind in Tagebuch und Lektüreliste [1] die »Mémoires du général Baron de Marbot« des Jean-Baptiste-Antoine-Marcelin de Marbot (1782–1854) (vgl. LL F104 sowie Tgb 22.12.1902, 20.11.1908 und 11.6.1911), nur im Tagebuch genannt ist [2] der zweite Band von Caroline Pichlers (1769–1843) vierbändigen, 1844 in Wien erschienenen »Denkwürdigkeiten aus meinem Leben« (Tgb 20.12.1908). Weder in Lektüreliste noch Tagebuch verzeichnet sind dagegen: [3] Joseph von Hormayr: Wien, seine Geschicke und Denkwürdigkeiten. Wien 1823–1825, [4] Karl August Schimmer: Die französischen Invasionen in Österreich und die Franzosen in Wien in den Jahren 1805 und 1809. Wien 1846 [21854], [5] Moriz Bermann: Alt- und Neu-Wien. Geschichte der Kaiserstadt und ihrer Umgebungen. Wien, Pest und Leipzig 1880, [6] Friedrich Anton von Schönholz: Traditionen zur Charakteristik Österreichs, seines Staats- und Volkslebens unter Franz I. 2 Bände. Leipzig 1844 [wieder München 1914 (Denkwürdigkeiten aus Alt-Österreich 3)] und [7] Georg Weber: Lehrbuch der Weltgeschichte mit Rücksicht auf Cultur, Literatur und Religionswesen [...]. Bd. 2. Leipzig 1867.
  48. So notiert Schnitzler im Tgb am 9.9.1882, dass er den »Dämon« sowie »Alte und Neue Zeit« von Jozef Ignacy Kraszewski, »Garman und Worse« von Alexander Lange Kielland, Hendrik Consciences »Der Rekrut« und Elise Polkos »Plaudereien« gelesen habe. Polkos Plaudereien sind im Gesamtverzeichnis der Tagebuch-Edition nicht als Titel verzeichnet.
  49. Tgb 6.2.1913.
  50. Schnitzler liest den Roman in Band 2 der fünfbändigen deutschen Werkausgabe, denn die erste deutsche Übersetzung von Bjömsons Roman hatte den Titel Flaggen über Stadt und Hafen (1904).
  51. Briefwechsel zwischen Rahel und Varnhagen. Hg. von Ludmilla Assing. 6 Bde. Leipzig 1874–1875.
  52. Vgl. Grillparzers Gespräche und die Charakteristiken seiner Persönlichkeit durch die Zeitgenossen. Hg. von August Sauer. 5 Bde. Wien 1904–1911.
  53. Briefe von und an Gottfried August Bürger. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte seiner Zeit. Hg. von Adolf Strodtmann. 4 Bde. Berlin 1874.
  54. Carl Eduard Vehse: Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation. Abth. III 3: Geschichte der Höfe des Hauses Braunschweig in Deutschland und England: die Hofhaltungen zu Hannover, London und Braunschweig (Bd. 20). Hamburg 1853.
  55. Havelock Ellis: Die Welt der Träume [The World of dreams, dt.]. Würzburg 1911.
  56. Tgb 7.6.1921. In der Aufzählung kommen auf vier historische Werke nur zwei fiktionale Texte: Zwei Biographien (Hans Wahl [Hg.]: Prinz Louis Ferdinand von Preussen. Briefe, Tagebuch, zeitgenössische Zeugnisse. Weimar 1917, und Lily Braun: Im Schatten der Titanen. Ein Erinnerungsbuch an Jenny von Gustedt. Braunschweig 1908) und zwei kulturhistorische Standardwerke (Rudolph Genee: Geschichte der Shakespeare’schen Dramen in Deutschland. Leipzig 1870, und Max von Boehn: Die Mode. Menschen und Moden im 18. Jahrhundert. Nach Bildern und Stichen der Zeit ausgewählt von Oskar Fischei. München 21919) stehen die zwei Roman-Klassiker gegenüber: Goethes Wilhelm Meisters Wanderjahre und Stendhals Roman Rouge et noir (letzteren las Schnitzler – wie er hinzufügt – bereits zum zweiten Mal).
  57. Tgb 14.5.1880.
  58. Brief aus Skodsburg vom 19.8.1896 an Marie Reinhard (»Wie gefällt dir die Bovary?«); BI, S. 297–299, hier 299, und konstatiert am 23.8.1896 aus Berlin zufrieden Marie Reinhards »Gefallen an der Mme Bovary«; BI, S. 299–302, hier 302.
  59. Brief aus Wiesbaden am 29.9.1899 an Gustav Schwarzkopf: »Gelesen hab ich die Madame Bovary«; BI, S. 378–380, hier 379.
  60. Tgb 11.1.1916.
  61. Vgl. die Einträge im Tagebuch vom 27.3.1895 (»Faust 2. Theil«), 20.4.1895 (»Bei Götz in der Burg«), 28.8.1895 (»Clavigo und Geschwister«), 2.1.1896 (»Faust im Burgth.«), 23.1.1896 (»Faust II«), 18.4.1896 (»Egmont, Burg.«), 18.5.1896 (»Tasso«), 29.8.1896 (»In Goetz«).
  62. Vgl. Tgb 22.8.1896 und 29.8.1896 sowie die Briefe an Marie Reinhard vom 13. und 14.8.1896 aus Skodsburg (BI, S. 292–297) und vom 23.8.1896 aus Berlin (BI, S. 299–302, hier 301 [»Auf der Fahrt gestern las ich Dichtung u Wahrheit zu Ende«]), dann 30.6.1908, 18.7.1908 und 12.9.1908, sowie 18.7.1914 (»Beginne [zum 3. Mal] Wahrheit und Dichtung zu lesen«), 16.8.1914 und 10.9.1914 (»Las Nm. Wahrheit und Dichtung [zum 3mal] zu Ende«), die Tagebuch-Einträge vom 25.3.1920 (»N.d.N. las ich Dichtung und Wahrheit weiter«), 7.4.1920, 15.5.1920 (»im Bett Dichtung und Wahrheit«), 13.6.1920 und 1.7.1920 (»Las Dichtung und Wahrheit wieder einmal zu Ende«).
  63. Vgl. die Einträge in Tgb vom 31.12.1904 (»Begann Briefe Reinhard – Goethe«), 3.8.1905, 21.8.1905 und 9.9.1905 (»Ausgelesen: Goethe – Reinhard«).
  64. Vgl. Tgb 6.10.1920.
  65. Die Aufnahmen im Atelier von Aura Hertwig notiert Schnitzler im Tgb 9.3.1903, 16.2.1904, 25.11.1905 (»Bei der Hertwig, mich photographiren lassen. (Wohnt in dem gleichen Haus wie Liesl.)«. Am 19.3.1906 photographierte Hertwig den Dichter in seinem Haus (»Mtg. Fr. Hertwig da, welche uns photographirte«).
  66. Vgl. zu Schnitzlers problematischem Verhältnis zu Hauptmann zuletzt Nikolaj Beier: »Vor allem bin ich ich ...«.Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk. Göttingen 2008, hier S. 192f.
  67. Arthur Schnitzler in seiner Bibliothek. Photographie von Aura Hertwig. 1905. DLA Marbach B 6258/67.
  68. Arthur Schnitzler, lesend und schreibend in mittleren Jahren. Photographie von Aura Hertwig, ÖNB, Pf 4719:C (1).
  69. Ilse Ross: Arthur Schnitzler in seiner Wohnung Sternwartestraße 71. 4.11.1926. ÖNB, AS Album 3,6. Vgl. dazu Tgb 4.11.1926 (»Vm. Frl. Ilse Ross; photografirt mich für Ullstein«), 6.11.1926 (Vm. bringt Frl. Ross die wohlgelungenen Probedrucke«) und 23.11.1926 (»Vm. Frl. Ilse Ross, brachte mir meine Photographien in einem Album; zeigt ihr allerlei andre Aufnahmen«).
  70. Anton Paul Huber (1852–1936) eröffnete 1881 sein erstes Atelier, dem nach 1880 noch einige Filialen folgen sollten. Seit 1898 mit dem Titel eines Hofphotographen ausgezeichnet, wurde er bekannt als Photograph von Manövem und militärischen Veranstaltungen. Vgl. Walter Koschatzky: Geschichte der Fotografie in Österreich. 2 Bde. Bad Ischl 1983, hier Bd. 2, S. 130. Die Goethe-Statuette von Christian Daniel Rauch 1828. Vgl. Goethe in der Plastik. Signet. Verlag Alt-Weimar, Weimar. Poststempel: 9.5.37. – Wahl, Nr. 71. Wahl / Kippenberg, S. 206.
  71. Anon. Großaufnahme von Schnitzlers Arbeitszimmer. DLA Marbach 11068/2.
  72. Arthur Grimm: Arthur Schnitzler liest. In: Querschnitt 11 (1931), S. 587.
  73. Zit. nach George Sylvester Viereck: Die Welt Arthur Schnitzlers (Interview). In: Arthur Schnitzler (1862–1931). Materialien zur Ausstellung der Wiener Festwochen 1981. Hg. vom Arthur-Schnitzler-Institut Wien, zusammengestellt von Peter Michael Braunwarth, Richard Miklin, Susanne Pertlik, Walter Ruprechter und Reinhard Urbach. Wien 1981, S. 19–23, hier 23.
  74. Tgb 30.8.1881.
  75. Tgb 22.8.1881 und 30.8.1881. Um die Nähe der Börne-Briefe zu diesem Lebensgefühl zu illustrieren, sei eine repräsentative Passage aus der Reise nach Paris zitiert: »Ich sitze ohne Teilnahme im Wagen, stumm wie ein Staatsgefangener in Ostreich und taub wie das Gewissen eines Königs. In der Jugend bemerkt man mehr die Verschiedenheiten der Menschen und Länder, und das eine Licht gibt tausend Farben, im Alter mehr die Ähnlichkeiten, alles ist grau, und man schläft leicht dabei ein. Ich kann jetzt einen ganzen Tag reisen, ohne an etwas zu denken« (Ludwig Börne: Briefe aus Paris, Vierter Brief. In: L. B.: Sämtliche Schriften. Hg. von Inge und Peter Rippmann. Bd. 3. Darmstadt und Düsseldorf 1964, S. 16).
  76. Tgb 11.10.1883 und LL R31 (vermutlich las Schnitzler die gerade erschienene deutsche Übersetzung [Leipzig 1883]). Unter demselben Datum verweist Schnitzler auf den literarischen Stoff »Menschenliebe«, an dem weiterzuarbeiten er sich wegen seines Medizinstudiums verbietet.
  77. Vgl. den Forschungsüberblick in meiner Studie: Arthur Schnitzlers intertextuelles Erzählen. Berlin und Boston 2013.
  78. Vgl. den Hinweis bei Reinhard Urbach: Schnitzler-Kommentar zu den erzählenden Schriften und dramatischen Werken. München 1974, S. 111.
  79. Vgl. Hans-Albrecht Koch: Ein Matthias-Claudius-Zitat bei Arthur Schnitzler. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 22 (1972), S. 435f.